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Du bist ein Gott, der mich sieht

Es gibt in der Bibel Figuren, die aufgrund ihrer Rolle oder der spezifischen Funktion, für die Gott sie ganz konkret in seinem heilsgeschichtlichen Plan erwählt hat, alle anderen Personen ihres Umfelds geradezu überstrahlen.

So Mose z.B., der große Prophet, der im Zentrum des Exodusgeschehens steht, auf den alle Augen gerichtet sind, bei dem man manchmal aber möglicherweise überliest, wie sehr er sich trotz seiner atemberaubenden Gottesbegegnungen auf die Hilfe seiner älteren Geschwister Aaron (Ex 4) und Miriam (Ex 2) angewiesen wusste.

Ähnlich David, die alttestamentliche Königsfigur par excellence, vor dessen Biographie etwas in Vergessenheit gerät, dass er unglaublich loyale Männer um sich hat, so Ittai, den Gatiter, der während Absaloms Rebellion treu an der Seite seines Königs bleibt, obwohl dieser ihn von all seinen Verpflichtungen entbindet (2. Sam 15).

Oder eben Abraham. Der Mann, auf dem die Verheißung einer unzähligen Nachkommenschaft liegt, bei dem sich aber im tiefen Spätherbst seines Lebens nicht dergleichen abzeichnet. Und diese Realität wie das Schwert des Damokles über seiner Frau Sara schwebt, über deren Leben der Makel der Kinderlosigkeit steht und dieser emotionale Zerbruch sie dazu treibt, ihre persönliche Dienstmagd, Hagar, eine junge Frau aus ägyptischer Knechtschaft, ihrem eigenen Ehemann anzubieten.

Und so passiert es, dass sich eine Dynamik entwickelt, in der weitere Fehlentscheidungen fast zur Notwendigkeit werden: sie Hagar dazu bringt, möglicherweise zu stolz aufzutreten und sich als direkte Konkurrentin in der Gunst Abrahams sehen lässt. Dies Sara wiederum bedroht und sie sich zu massiven Demütigungen hinreißen lässt, die schlussendlich dazu führen, dass Hagar die Flucht ergreift.

Und vielleicht erahnt man heute, wie groß das Maß an Hagars Verzweiflung gewesen sein muss, dass sie sich in dieser Kultur des antiken Nahen Ostens zu diesem dramatischen Schritt gedrängt gefühlt haben muss: hochschwanger zu fliehen.

Aber Gott sei dank ist die Geschichte hier nicht zu Ende, denn in dieser Verzweiflungs- und Fluchtsituation (Gen 16) begegnet ihr die faszinierendste Gestalt des gesamten Alten Testaments, der Malak Jahwe. Es ist der erste Auftritt dieser Figur und sie ist deshalb so faszinierend, weil das Verhältnis zwischen diesem ‚Boten‘ und Gott merkwürdig einzigartig ist. Mal scheint er von Gott verschieden zu sein, mal ist er mit ihm in einzigartiger Weise gleichgesetzt oder gar identifiziert. Er ist der personifizierte Beschützer des Volkes während des Auszugs aus Ägypten (Ex 14,19). In Ex 23 heißt es von ihm allein, dass der Name Gottes (JHWH) in ihm ist und dass er als Träger dessen in Eigenregie Sünden vergeben kann – im Alten Testament unverbrüchlich göttliches Exklusivrecht.

Wer also ist diese ominöse Figur? Wie in vielen theologischen Fragen gibt es hier diverse Versuche, dies zu beantworten. Ein Vorschlag, der aus der Zeit der frühen Kirchenväter stammt lautet, in dieser Figur das präexistente (also vor der Erschaffung des Universums bereits existierende) „Wort Gottes“ zu sehen – Jesus Christus als die zweite der trinitarischen Personen.

Dieser Vorschlag kam auf, weil es in diversen Texten nahezu unmöglich ist, zwischen dem ‚Engel des Herrn‘ und JHWH selbst zu unterscheiden (Gen 22,11-18; 31,11-13; Ex 3,2-10). Manchmal wird der ‚Engel des Herrn‘ als anstelle JHWHs handelnd beschrieben und doch als ‚Herr‘ adressiert. Gott sagt zwar „kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben“ (Ex 33,20) und dennoch heißt es von Jacob (Gen 32,30), Mose (Ex 33,11) und Hagar (Gen 16,13), dass sie Gott in der Konfrontation mit dem Malak JHWH von Angesicht zu Angesicht gesehen haben. Gott verspricht seinem Volk seine unmittelbare Gegenwart im Auszug, aber es ist der ‚Engel des Herrn‘, der sie begleitet und in dem diese vollzogen zu sein scheint. Es scheint, als besitze die Figur die volle Autorität und den Charakter Gottes.

Ob man diesem Verständnis zustimmen möchte, bleibt selbstverständlich jedem selbst überlassen. Fakt bleibt, dass Hagar exakt dieser Figur auf ihrer Flucht begegnet und sie ihr verordnet: Kehr zurück zu Sara. Kehr zurück zu ihr, obwohl du auf der Flucht bist. Nenn Deinen Sohn Ismael, weil Gott Dich und Dein Elend gehört hat. Gott hört und er sieht Hagar und das macht sie zur ersten biblischen Person, die ein eigenes Gottesbekenntnis formuliert:

Du bist ein Gott, der mich siehtEL Roi, Gott des Sehens.

Es sind also nicht die Schwergewichte des Alten Testaments Abraham, Mose, David oder Jesaja, denen die Ehre zukommt, Gott erstmalig zu benennen und zu bekennen. Es ist ein Sklavenmädchen aus Ägypten, die in ihrer eigenen Begegnung mit Gott selbst dadurch zur ersten Theologin der Bibel wird dadurch, dass sie ihr eigenes Gottesbekenntnis formuliert:

Du bist ein Gott, der mich sieht (Gen 16,13).

Das ist das Bekenntnis Hagars. Vielleicht hat Euch Hagars Geschichte ermutigt, über Euch und Eure Gottesbeziehung nachzudenken. Vielleicht seid ihr ja sogar motiviert, Euer ganz eigenes, individuelles und persönliches Gottesbekenntnis zu formulieren! Ganz egal ob Einzeiler, Liedstrophe oder systematische Ausdifferenzierung.

Und wenn ihr möchtet, dann schickt es gerne an mich unter christian.stoeckl@salem-gemeide.de, auch mit einem kleinen Vermerk, ob es (anonym oder namentlich) in Salem nochmal irgendwo auftauchen darf, z.B. auf einer Gottesdienstpräsentation oder als einem Impuls für unsere Hauskreise.

Ganz liebe Grüße

Christian